Anfang der sechziger Jahre konnten die Bürger von New Haven
im US-Staat Connecticut in ihrer Lokalzeitung eine Anzeige lesen, die so begann:
"Aufruf an die Öffentlichkeit! Wir bezahlen Ihnen 4 Dollar für eine
Stunde Ihrer Zeit. Personen für eine Untersuchung über Gedächtnisleistung
gesucht." Das war der Anfang eines der umstrittensten Experimente der
Sozialpsychologie. Es wurde von Stanley Milgram, damals Professor an der
Yale-University in New Haven, durchgeführt und ist mittlerweile allgemein als
das "Milgram-Experiment" bekannt.
Das Experiment lief folgendermaßen ab:
War ein Bewerber als Versuchsperson angenommen worden, so wurde er mit einer
anderen Versuchsperson bekannt gemacht. Beiden wurde gesagt, es ginge darum, die
Wirkung von Bestrafung auf das Lernen von Wortkombinationen zu erforschen. Einer
von beiden sollte als Lehrer, der andere als Schüler fungieren. Man loste, wer
"Lehrer", wer "Schüler" sein sollte, und dann wurden die
beiden in einen Nebenraum geführt, wo der Schüler auf einer Apparatur Platz
nahm, die Ähnlichkeit mit einem elektrischen Stuhl hatte. Der Versuchsleiter
erklärte, daß der Schüler elektrische Schocks erhalten sollte, wenn er ein
Wortpaar auf Abfrage nicht richtig wiedergegeben hatte. Die Elektroden wurden am
Handgelenk des Schülers angebracht, dann ging der Versuchsleiter mit dem Lehrer
in einen angrenzenden Raum, wo der "Schockgenerator" stand. Er hatte
30 Schalter, die von 15 Volt bis 450 Volt gingen. Der Lehrer sollte dem Schüler
bei jeder falschen Antwort einen Schock verabreichen und dabei immer höher
gehen bis zur Maximalvoltstärke von 450 Volt.
Das Experiment begann. Der Lehrer gab pro Fehler einen
E-Schock. Die Schocks wurden stärker. Man hörte den Schüler durch das
Mikrophon stöhnen, dann schreien "Aufhören", und immer lauter
brüllen vor Schmerz. Der Lehrer wurde unsicher, blickte zum Versuchsleiter. Der
sagte lakonisch: "Weitermachen". Und zwei Drittel aller
Versuchspersonen machten weiter bis 450 Volt, was in der Realität den Tod des
Schülers bedeutet haben würde.
Szenen wie die folgende entspannen sich:
Lehrer: Dick-Mann, Bitte beantworten Sie. Dame, Faß, Nacken. (Summen) Falsch.
Die Antwort ist Nacken. 300 Volt.
Schüler: Aah. Ich weigere mich absolut, weiter zu antworten. (Schreit nun
dringlich) Laßt mich hier raus! Ihr könnt mich nicht festhalten! Holt mich
raus! Holt - mich - hier - raus!
Versuchsleiter: Weiter. Das nächste Wort ist grün. Also bitte.
L.: Bedeutet denn die Gesundheit dieses Mannes gar nichts?
VL: Ob es dem Schüler paßt oder nicht ...
L.: Was ist, wenn der da drinnen tot ist? Ich meine, Sir, er hat mir doch
gesagt, daß er den Schock nicht aushalten kann. Ich will ja nicht aufdringlich
sein, aber ich glaube, Sie sollten mal nach ihm sehen. Sie brauchen doch bloß
zur Tür reinschauen. Ich krieg keine Antwort, keinen Ton. Mit dem Herrn dort
drin könnte ja was passiert sein, Sir.
VL: Wir müssen weitermachen. Fahren Sie fort.
L.: Sie meinen, ich soll ihm wieviel geben? 450 Volt, wie bisher?
VL: Das ist richtig. Fahren Sie fort. Das nächste Wort lautet
"weiß".
L.: (rasch und schnell) Weiß - Wolke, Pferd, Felsen, Haus. Antwort bitte.
(Keine Antwort) Die Antwort ist Pferd. 450 Volt. (Gibt den Schock).
Wenig später bricht der Versuchsleiter das Experiment ab.
Es kam aber auch zu Szenen wie dieser:
VL: Es ist absolut wesentlich, daß Sie fortfahren.
L.:Ich möchte, daß Sie ihn fragen. Wir sind aus freiem Entschluß hier. Wenn
er weitermachen möchte, dann mache ich weiter... Tut mir leid. Ich will nicht
dafür verantwortlich sein, wenn ihm was passiert. Ich möchte das ja auch nicht
für mich selbst haben.
VL: Es bleibt Ihnen keine andere Wahl.
L.: Ich glaube, daß wir aus freiem Entschluß hier sind. Ich will nicht dafür
verantwortlich sein, wenn ihm irgendetwas passiert. Haben Sie bitte dafür
Verständnis.
Sie weigert sich, weiterzumachen. Das Experiment ist beendet.
Hintergrund:
Tatsächlich handelte es sich ganz und gar nicht um eine Untersuchung zur Lern-
und Gedächtnisforschung. Milgram hatte vielmehr herausfinden wollen, wie lange
ein Mensch einer Autorität gehorcht, die ihm befiehlt, einem anderen Menschen
wehzutun. Der "Schüler" war keine echte Versuchsperson, sondern ein
Mitarbeiter des Versuchsleiters. Die Auslosung war Mogelei gewesen, die
elektrischen Schläge ein Bluff und Stöhnen und Schreien des
"Schülers" waren vom Tonband gekommen. Zwei Drittel der
Versuchspersonen gingen also - mit allen äußeren Anzeichen von Streß wie
Zittern, Schwitzen, Stottern, hysterischem Lachen usw. - bis ans Ende der
Voltskala - zum großen Erstaunen der Untersucher, die mit einer derartigen
Menge "gehorsamer" Versuchspersonen keinesfalls gerechnet hatten.
Das Milgram-Experiment wurde öfters wiederholt, teilweise mit
noch extremeren Ergebnissen in Richtung Gehorsam. Bei einer Wiederholung in
Deutschland (Max-Planck-Institut, München (H.G.)) zählten gar 85 Prozent der
Versuchspersonen zu den "Gehorsamen". Milgrams Experiment brachte
verblüffende und erschreckende Ergebnisse, die ein bißchen begreifbarer
machen, wie es zum (Massen-)Mord auf Befehl kommen kann, und das nicht nur in
einem Land wie Deutschland unter dem Nationalsozialismus - auch die
amerikanischen Versuchspersonen mit ihrer Tradition von Freiheit und Demokratie
reagierten nicht viel anders.
Es ist aber auch heftig kritisiert worden, denn Milgram hatte
den wunden Punkt der Ethik in der psychologischen Forschung berührt, hatte die
diesbezüglichen Regeln aufs schwerste verletzt: Den Versuchspersonen wurde
geschadet, indem man ihnen ein Stück Selbsterkenntnis aufzwang, das unter
Umständen ein Trauma hinterlassen konnte. Sie wurden außerdem getäuscht, so
leichtherzig, wie man Laborratten in einem Experiment an der Nase herumführt,
wenn es für die Untersuchung notwendig ist. Milgram stellte dem entgegen, daß
in Nachbefragungen über 80% der Versuchspersonen angaben, sie seien froh, an
dem Experiment teilgenommen zu haben. Die meisten Versuchsperson zogen die
Konsequenz daraus, daß sie in Zukunft lernen müssten, Autorität auch
Widerstand entgegenzusetzen.